Sich in Dingen zu verlieren, kann unbeschreiblichen Genuss bringen. Sei es durch den Anblick einer imposanten Landschaft, das Hören eines berührenden Musikstücks, das Lesen eines spannenden Buches, das leidenschaftliche Gestalten im Garten, das genüssliche Ausführen eines wiederholten Sonnengrußes, das motivierte Aufstellen eines Projektplanes. Wenn sich bei einer Tätigkeit Freude, Herausforderung und Fähigkeiten treffen, stellt sich ein Flow-Erleben ein und wir verlieren uns voll und ganz im Tun, im Sein, im Hier und Jetzt. Oft fühlen wir uns auch zu Beginn von Beziehungen wie im Flow, es ist aufregend, spannend und wohltuend. Wir begeben uns gerne und gewollt als zwei Individuen in einen gemeinsamen Raum, der ein Erkunden, Entdecken, Genießen und Verschmelzen ermöglicht. Manchmal übersehen wir dabei jedoch, uns in Partnerschaften den eigenen Raum zu erhalten. Und plötzlich scheinen wir uns selbst in der Partnerschaft verloren zu haben. Das kann – im Gegensatz zur Erfüllung und Bereicherung des Sich-in-Dingen-verlierens – beengend, erdrückend und entfremdend sein.
Das sich Verlieren oder Aufgehen in Dingen hat, obwohl Zeit in solchen Zuständen verzerrt wirkt, immer einen zeitlichen Rahmen. Wenn das Beet im Garten gestaltet, der Projektplan entworfen, das Musikstück beendet ist, gehen wir erfüllt und zufrieden wieder in den Alltag über. Wir haben Kraft im Tun getankt, unseren persönlichen Raum ausgefüllt. In Beziehungen steht das Miteinander im Vordergrund. Ein Miteinander, das romantisch betrachtet kein Ende nehmen soll, dessen zeitlicher Rahmen also nicht gegeben zu sein scheint. So wie es keinen Dauer-Flow im Tun gibt, gibt es ihn auch nicht in der Verschmolzenheit zweier Menschen. Denn ohne zumindest zwei Individuen kann es kein Miteinander geben. Wenn wir in Partnerschaften nur mehr ein Wir, aber kein Ich leben, kann das auf Dauer nicht funktionieren. Das Sich-Verlieren wir zu einem Sich-Verloren-fühlen.
Raum in Partnerschaften
Ich habe in einem früheren Artikel über das gemeinsame Gehen geschrieben: gemeinsam durchs Leben gehen bedeutet, dass zumindest zwei Personen miteinander in dieselbe Richtung gehen. Es bedeutet nicht, dass das immer aneinandergequetscht, ohne kleine Umwege, Planänderungen, Entwicklungen oder Pausen geschieht. Wichtig ist, dass bei jeder einzelnen Person ALLES mitgehen darf. Sonst bleiben Teile ebenso auf der Strecke wie wahrhaftes Miteinander. Raum nehmen und Raum geben – so ist ein gemeinsames Gehen erfüllend, freudvoll, aufregend und abwechslungsreich.
Wenn zu wenig eigener Raum da ist, sind Streitigkeiten, emotionale Ausbrüche, verletzende Grenzziehungen, wahrgenommene Übergriffigkeiten auf Seiten des*jenigen, die* diesen Raummangel bewusst oder unbewusst wahrnimmt, keine Seltenheit.
Insbesondere Mütter von Kleinkindern, die die Hauptverantwortung für die Kinderbetreuung haben, unabhängig davon, ob sie wieder erwerbstätig sind oder nicht, erleben oft einen deutlichen Raumverlust, der sich dann auch auf die Partnerschaft auswirkt. Viele Partner*innen verstehen diese scheinbar plötzliche Unzufriedenheit, Frustration bis hin zur Depression nicht, können sie nicht nachvollzeihen. Meist, weil ihr eigener Raum weniger geschrumpft ist als der des kinderbetreuenden Elternteils.
Wie klein oder groß der Raum ist, wie er gestaltet wird, welche Bedürfnisse er erfüllt und welche Ressourcen er benötigt, ist individuell unterschiedlich. Das macht das Verstehen und Verständnis für das eigene Raum-Bedürfnis durch die*den Partner*in, Eltern, Freund*innen schwierig. Offenes Aussprechen der Bedürfnisse und Wünsche auf der einen Seite sowie der ehrliche Versuch, dieses Bedürfnis ernst zu nehmen und anzuerkennen, ohne es verstehen zu müssen auf der anderen Seite, sind Schritte (zurück) in eine Beziehung, in der sowohl Bei-Sich-Sein als auch Miteinander-Sein Ihren Platz haben.
Die genannten Prinzipien gelten ebenso für alle anderen Arten von Beziehungen, die wir führen. Umso mehr, je enger diese sind.
Alles Liebe,
Eure
Esther
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